04. Mai 2019

Verstecktes Sixpack

 

Der Frühling ist da. Die Vögel kehren zurück aus dem Winterurlaub und zwitschern was das Zeug hält. Nicht dass ich etwas dagegen habe. Ich zwitschere mir hin und wieder auch gerne mal einen. Jedoch nicht um 6 Uhr morgens auf der Fensterbank meines Schlafzimmers. 
Auf der Baar, auf der ich wohne, ist dieser Abschnitt des Jahres dennoch eine magische Jahreszeit, wenn die Störche sich ins Nebel der tief stehenden Sonne Frösche schmecken lassen, für die wir Menschen speziell Straßentunnel bauen, damit Meister Adebar auch genug Fressen für den Nachwuchs hat. Die Tage werden heller, die Bäume und Pflanzen werden wieder grün und tragen Knospen. Ich sitze am Fenster, habe den perfekten Blick auf den Donaueschinger Schlosspark und zähle die Jogger, die sich ihren Winterspeck in neonbunten, hautengen und aerodynamischen Ganzkörpermarathonlaufklamotten, vom Discounter abtrainieren wollen. Ich fasse mir an den Bauch und frage mich, ob sich darunter ein Sixpäck verstecken könnte. Die Vorstellung klingt zwar sehr verlockend, jedoch lasse ich auf Grund des damit verbundenen Aufwands schnell von dem Gedanken ab. Frühling, das ist für mich die Zeit, in der ich richtig heiß auf Spargel bin, mit Sauce Hollandaise und zerlaufener Butter, Schinken, Kartoffeln und Kratzete. Das Wasser läuft mir im Mund zusammen.
Ich beschließe meine Vespa zu satteln und Spargel für Heidi und mich zu besorgen. Die „Diva“ wie ich mein italienblaues Zweikraftrad nenne, hat den Winterschlaf gut überstanden und nach einigen Startversuchen röhre ich durch die Stadt. Ein schlechtes Gewissen plagt mich, denn ich hätte auch gut zu Fuß gehen können, wäre besser für die Umwelt und meinen versteckten Sixpäck. 
Ich beschließe mein schlechtes Gewissen mit einer Kugel Vanille Eis zu beruhigen, denn auch das ist für mich Frühling: Die erste Kugel Eis des Jahres! Ich sitze auf einem Mäuerle und freue mich über die ersten postpubertierenden jungen Erwachsenen, die mit Ihren auf Kredit gekauften und tiefergelegten BMWs über die Pflastersteine schleichen, um endlich wieder mit offenen Scheiben die Stadt mit überproduzierter Gangstermucke beschallen zu können. Wie habe ich das in den Wintermonaten vermisst. Leben in der Stadt! Es ist mittlerweile Nachmittag und ich frage mich, wie sich diese vier Kugeln Pistazien-, Stracciatella-, Erdbeer- und Malaga-Eis in meinen Becher geschmuggelt haben. Da bekomme ich eine Nachricht von Heidi auf meinem Handy: „Hi Schatz, bin um 16:15 Uhr am Bahnhof, holst Du mich mit der „Diva“ ab? Was gibt’s zum Essen? Leg schon mal die Yogamatten aus. Heute wird trainiert!“ Ich denke an meinen versteckten Sixpäck, knete etwas an meinem Bauch herum und beschließe zum Discounter zu fahren und mir Laufklamotten zu kaufen.