Es ist Dienstag Abend und ich sitze bei meinen Eltern, denn meine Tante ist zu Besuch. Als Schwester meiner Mutter lebt und arbeitet sie in Prag, der goldenen Stadt. Beides gebürtige Tschechinnen, die mit meiner Oma in Tschechien aufgewachsen sind. Ich kann mich an diese vielen Geschichten meines Vaters erinnern, wie er damals in den 70er Jahren mehrmals im Jahr alleine nach Tschechien fuhr, wo meine Tante zurückgeblieben war, nachdem der „Eiserne Vorhang“ die Familie trennte. Jedoch habe bis heute noch nie meine Mutter zu diesem Thema befragt. Vielleicht habe ich innerlich schon gespürt, dass dies Emotionen hervorrufen wird, vor denen ich als junger Erwachsener zu viel Respekt hatte. Doch jetzt sitzen wir bei einem guten Glas Weißwein vereint im Wohnzimmer und ich frage: „Mama, wie bist du und Oma damals nach Deutschland gekommen?“ Meine Mutter wirkt unvorbereitet und fängt an zu erzählen: „Ich bin im Schulbus gesessen auf dem Weg nach Hause in unser kleines Dorf, in dem wir lebten. Plötzlich ertönt es aus dem Radio: Die Russen sind auf dem Weg und es gibt Krieg.“ Sie dachte sich, was für eine blöde Serie da in diesem Radiosender kommen würde und ihr war noch nicht bewusst, dass die folgenden Jahre ihr ganzes Leben verändern werden. „Ich bin Heim gekommen und meine Eltern sagten, dass wir alle Türen und Fenster schließen sollen. Soldaten sind hier. Es waren vor allem junge Soldaten, die Essen und Trinken von den Dorfbewohnern wollten.“ „Es war der 21. August 1968.“ Ergänzt meine Tante. „Von jetzt auf nachher hatte sich unser Leben verändert. Und wir konnten nichts dagegen tun.“ Ich merke die Emotionen bei meiner Mutter und ihrer Schwester, die die Geschichte immer noch nach so vielen Jahren hervorruft. „Wie ein eiserner Vorhang, war unsere Freiheit eingeschlossen worden.“ Das ist nur ein Satz, von unzähligen anderen, die an diesem Familien Abend von den Lippen meiner Mutter und Tante den Raum mit Gedanken füllt. Gedanken, die mir zeigen, dass auch nach so vielen Jahren, Narben geblieben ist, die die beiden und meine Oma ein Leben lang begleiten werden.
Auf meinem Heimweg wird mir klar, dass ich erst jetzt viele Dinge meiner Kindheit verstehe. Dieses einschneidende Erlebnis ist nicht nur ein Teil der Geschichte meiner Mutter und ihrer Schwester, sondern es hat mein Leben und das meiner Cousine mit geformt. Es hat unsere Persönlichkeiten, die wir heut sind, indirekt beeinflusst. Denn unsere Eltern haben uns stets offenherzig und liberal erzogen. Mauern waren für uns Kinder kein Thema. Uns wurde Toleranz und Respekt gelehrt, also genau das, was Mauern sinnlos macht.
Ich gehe die Treppe in meine Wohnung hinauf und fühle mich zufrieden, denn ich weiß, dass mich die Erinnerungen von heute, dem Mensch sein ein großes Stück näher brachten. Ich kann es somit jedem ans Herz legen, sich mit den Eltern oder Großeltern zusammenzusetzen, um deren Geschichte zu erfahren, denn ich habe erkannt: Wer reflektiert, wird keine Mauern um sich zu bauen.