Der Mann ab dreißig

22. Juni 2019

 

Hätte mir jemand vor zehn Jahren gesagt, dass ich heute eine Kolumne über das Thema „Der Mann ab Dreißig“ schreibe würde, dann hätte ich ihm womöglich den Vogel gezeigt. 

Angefangen hat dieses Dilemma damit, dass ich beim Friseurbesuch merkte, wie sehr meine Geheimratsecken mittlerweile zu Geheimratsquadrate mutiert sind. Nach einem anregenden Gespräch mit Vito, meinem Haarkünstler, über unser Alter, ging es nicht mal ein paar Stunden und ich hatte auf Facebook die erste Werbeanzeige für ein Produkt gegen Haarausfall. Außer dass mein Mobiltelefon bereits Stasi-ähnliche Methoden entwickelt hat, echauffiere ich mich aber mehr darüber, dass die Zeit angefangen hat, an mir zu nagen. Wie ein Biber, der sich nachts aus seinem Bau schleicht, wenn alle Zeugen schlafen, und sich die schönsten Haare aussucht, um so lange an ihm zu nagen, bis sie fallen. Doch das ist nicht Alles. Der Krisenherd wird immer größer. Durchzächte Nächte waren bisher kein Problem. Wenn man als Musiker eine wichtige Voraussetzung mitbringen muss, dann ist es das Feiern bis tief in die Nacht hinein. Jedoch wird die Regenerationsphase zunehmend größer und hat sich von null auf bereits 5,75 Tage ausgeweitet. Auch die Wahl der Spirituosen hat sich in den letzten Jahrzehnten nicht nur mengentechnisch, sondern auch qualitativ verändert. Als junger Erwachsener mischten wir Alles, was der Kühlschrank und Keller hergab wild durcheinander. Gaben dem Getränk seltsame Namen wie Corea oder Wokiweizen. Letzteres ist eine zufällig entstandene Mischung aus Wodka, Kirschsaft und Hefeweizen. Nicht zu empfehlen. Heute bestelle ich an der Theke: „Ein dünnes Weißweinschorle Sauer nach Möglichkeit mit Müller-Thurgau. Von dem Rest kriege ich immer Sodbrennen.“ Ernsthaft!? Ich habe gerade vor dieser weiblichen und sehr hübschen Servicekraft das Wort „Sodbrennen“ in den Mund genommen? Und wieder wächst mein Krisenherd. 

Der Zahn der Zeit nagt und nagt unaufhörlich und wortwörtlich. Bevor ich auf die Bühne gehe, muss ich die immer größer werdenden Zahnzwischenräume nach hängengebliebenen Essensresten checken. Wäre mir vor 15 Jahren nie passiert oder ich hätte nicht darüber nachgedacht. 

Ich weiß, wenn ich mit zarten 36 Jahren schon an Midlife Krise denken würde, dann würde ich ja nur 72 Jahre alt werden. Jedoch ertappe ich mich schon jetzt dabei, so „möchte gern jung“ zu wirken. Ich benutze Wörter wie „Alter“ oder „LOL“. Die ja schon wieder voll „out“ sind. Dabei bin ich aus der Generation, in der das Wort „oberaffengeil“ richtig „cool“ war. Ich muss es akzeptieren: Ich gehöre jetzt zu den Gammelfleischparty-Gängern, basta. 

Letzens war ich sogar auf einer dieser Ü30 Parties. Drängelte mich zwischen eher 40 bis 50 jährigen Singles an die Theke und wollte wieder ein Weißweinschorle Sauer bei der weit unter 30 jährigen, sehr attraktiven Frau hinter der Bar bestellen. Jedoch sprach die Stimme in meinem Kopf: „Sebastian, nein! Denk daran, du bist noch nicht so alt!“ Also lehnte ich mich entspannt über den Tresen und sagte: „Hey Du, machste Dir und mir ´nen zwei Shots?“ Die Kellnerin erwiderte: „In Deinem Alter würde ich Dir aber eher ein Weißweinschorle empfehlen.“ Und ich begriff, dass der Zug bereits abfuhr und aus dem Bahnhofslautsprecher ein Stimme sprach: „Sehr verehrte Fahrgäste, an Gleis 36 fährt ein der Midlife Express aus „Dreißig-war-einmal“ mit Weiterfahrt nach „Die-Vier-ist-nicht-mehr-weit“. Bitte Vorsicht bei der Einfahrt.“

Ich steige ein, gehe ohne Umwege in den Bistro Wagen. Ich staune nicht schlecht, denn auf der Getränkekarte steht affengeiles Wokiweizen für 3,80 DM. Aus den Lautsprechern höre ich Dr. Alban „Sing Halleluja“ singen. Die Kellnerin trägt ein zerrissenes Nirvana T-Shirt und ich begreife: Das wirklich Schöne am Älterwerden ist die stetig wachsende Summe deiner Erinnerungen, die Du jeden Tag deines Lebens feiern solltest.